Smarte neue Welt by Morozov Evgeny
Autor:Morozov, Evgeny
Die sprache: deu
Format: epub
Herausgeber: Blessing
veröffentlicht: 2013-09-29T16:00:00+00:00
Das Ende des moralischen Bürgers?
Für Brownsword besteht das eigentliche Problem also nicht darin, dass die Moral- und Vorsichtsregister von einem technischen überholt werden. Vielmehr wird es immer schwieriger, Gesetze und Normen zu hinterfragen und neu zu formulieren, wenn sie erst einmal in eine Technik eingebettet sind. Sie treten schlicht in den Hintergrund und scheinen naturgegeben zu sein; man betrachtet sie wie einen Teil der bebauten Umwelt und nicht als bewusste Konstrukte irgendeines cleveren Sozialtechnologen. Wenn wir aber in einer Welt leben wollen, in der Normen und Gesetze ständiger Kontrolle und Revision unterliegen, dann sollten wir darauf achten, die Technik dabei nicht allzu viel regeln zu lassen.
Brownsword formuliert seine Forderung folgendermaßen: »Moralische Gemeinschaften müssen über ihre Ziele laufend diskutieren. In einer solchen Gemeinschaft darf man ein passives, von der Technik geleitetes und bestimmtes Mitglied sein, doch bedarf es daneben auch einer aktiven, moralischen Bürgerschaft.«35
Brownsword stellt den Bezug zwar nicht her, doch erinnern seine Gedanken an das, was John Dewey vor beinahe einem Jahrhundert zum Ausdruck brachte, als er darüber schrieb, wie wichtig es im Lichte unserer praktischen Erfahrung der Welt sei, unsere Theorien zu revidieren – darunter auch jene davon, was moralisch sei und was nicht.36 Für Dewey sind moralische Regeln »intellektuelle Instrumente, die gemäß der Folgen des durch sie bestimmten Handelns überprüft und bestätigt – und verändert – werden müssen«.37 Somit bedürfen wir unbedingt einer »aufrichtigen Akzeptanz der Unsicherheit der moralischen Situation und des hypothetischen Charakters sämtlicher Regeln nach sittlichen Maßstäben, solange noch nicht nach ihnen gehandelt wurde«.
An einem Beispiel lässt sich verdeutlichen, was Dewey im Sinn hatte. Einst war es vollkommen akzeptiert, Sklaven zu halten oder die politische Partizipation auf männliche Weiße einer bestimmten Klasse zu beschränken. Die Folgen des Handelns nach diesen Moralprinzipien erwiesen sich als katastrophal, also wurden die Regeln revidiert. Aus Deweys Sicht funktionierte das moralische System in beiden Fällen insofern gut, als dass es uns erlaubte, seine Ungerechtigkeit zu erkennen und es entsprechend zu verändern. Moral ist demnach nicht das Einhalten bestimmter festgeschriebener Vorgaben, sondern die Bewahrung der rechtlichen und intellektuellen Räume, in denen solche Vorgaben erfasst, diskutiert, revidiert und nötigenfalls verworfen werden können. Dewey selbst schrieb: »So wie das physische Leben nicht ohne Rückhalt einer physischen Umgebung existieren kann, kann auch das sittliche Leben nicht ohne den Rückhalt einer sittlichen Umgebung existieren.«38 Deweys »sittliche Umgebung« ist dabei schlicht die Anhäufung der rechtlichen und intellektuellen Räume, in denen es gestattet ist, als längst gelöst geltende Fragen neu aufzuwerfen.
Der Wechsel zur praktischen, technisch ermöglichten Ebene droht solche Freiräume zu versperren. Wie wir im letzten Kapitel dieses Buches sehen werden, muss das nicht sein: Von einer anderen Philosophie inspirierte Technik kann solche Debatten sogar anregen, anstatt sie zu verhindern. Die solutionistische Technik indes, die aus der SKP-geleiteten Kriminologie und der aufkommenden behavioristischen Literatur über das Nudging erwächst, ist leider nicht darauf gerichtet, Debatten im Dewey-Stil zu fördern oder zu erhalten; sie zielt auf eine Steigerung von Nützlichkeit und Effizienz ab – sie will ihren Job erledigen.
Bruno Latour, selbst ein großer Dewey-Fan, schrieb einmal: »Der moralisch besorgte Umgang
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